bmlo.de/l0192/A1
Lasso, Orlando di (Orlande de Lassus, Roland de Lassus), * 1539/1532 Mons (Hennegau), † 14. Juni 1594 München, Komponist, Kirchenmusiker

1   Biographie

Die folgende Darstellung von Lassos Biographie bietet lediglich einen knappen Überblick. Das Standardwerk zur Biographie ist nach wie vor Horst Leuchtmann: Orlando di Lasso. I. Sein Leben. Neuere biographische Erkenntnisse u.a. bei Ignace Bossuyt: Lassos erste Jahre in München (1556-1559) und zusammengefasst bei Franz Körndle: Perspektiven der Lasso-Forschung. Kurzgefasste Zeittafeln zu Lasso in den Ausstellungskatalogen Helmut Hell/Horst Leuchtmann: Orlando di Lasso, Musik der Renaissance am Münchner Fürstenhof und Horst Leuchtmann/Hartmut Schaefer: Orlando di Lasso, Prachthandschriften und Quellenüberlieferung. Hingewiesen sei außerdem auf die Personalartikel zu Lassos von Ignace Bossuyt in MGG2 und James Haar in New Grove Dictionary2.

Lasso kam mit sieben Jahren in ein Chorknaben-Internat. Wegen seiner schönen Stimme wurde er von dort dreimal entführt; zweimal holten ihn seine Eltern zurück, mit deren Einverständnis folgte er 1544 Ferrante Gonzaga (Vizekönig von Sizilien und kaiserlicher Feldherr) nach Italien, diente ab 1545 in Palermo und ab 1546 in Mailand in Gonzagas Kapelle. 1549 ging er mit dem Malteserritter Constantino Castrioto nach Neapel, wo er bis 1551 blieb. Er ging anschließend nach Rom, wo er zunächst als Gast bei Antonio Altoviti (dem in Rom residierenden Erzbischof von Florenz) lebte, ehe er Kapellmeister in San Giovanni in Laterano wurde. 1554 verließ er Rom, um seine erkrankten Eltern in Mons zu besuchen, die er jedoch nicht mehr lebend antraf. Bevor er sich 1554 bis 1556 in Antwerpen niederließ, unternahm er zusammen mit Giulio Cesare Brancaccio eine Reise nach Frankreich und mutmaßlich nach England. In seiner Antwerpener Zeit erschienen die ersten Drucke eigener Werke in Antwerpen (Susato), Rom (Dorico) und Venedig (Gardano).

Ab Herbst 1556 ist Lasso als Tenorist in München nachweisbar, wohin er auf Vermittlung der Fugger gekommen war. Ein Briefwechsel mit dem Bischof von Arras Antoine Perrenot de Granvelle belegt jedoch, dass er an einer Stelle an einem größeren Hof interessiert war (evtl. bei Philipp II. von Spanien?). Erste Gehaltszahlungen in München sind für 1557 nachweisbar: er erhielt 180 und einen halben Gulden, während der Kapellmeister Ludwig Daser nur mit 150 Gulden besoldet war. 1558 heiratete Lasso Regina Wäckinger, die Tochter des Landshuter Stadtschreibers. Aus dieser Ehe sind sieben Kinder bekannt; zwei davon, der 1609 verstorbene Ferdinand de Lasso und Rudolph de Lasso († 1625) wurden Musiker, von vier weiteren weiß man die Namen: Anna († nach 1614), Regina († 1630), Ernst († 1596) und Wilhelm. Laut Quickelberg wurde Lasso 1562 Hofkapellmeister, obwohl Dasers Entlassungsurkunde auf den 29. Mai 1563 datiert ist. Die Hofkapelle Albrechts V. wurde unter seiner Leitung eine der bedeutendsten in Europa. Im Jahr der Hochzeit des Thronfolgers Wilhelms V. mit Renata von Lothringen (1568) war sie mit ca. 60 Sängern und und Instrumentalisten am stärksten besetzt. Lasso erwarb mehrmals 1567 Grundbesitz in Bayern: zuerst 1567 ein Haus in der Graggenau (heute am Münchner Platzl), 1581 ein benachbart stehendes Haus, 1578 und 1587 kamen Gründe in Maisach und Schöngeising dazu. Am 7. Dezember 1570 wurde er auf dem Reichstag zu Speyer von Kaiser Maximilian II. geadelt. 1571 erhielt er ein persönliches Druckprivileg für Frankreich von Charles IX., 1581 folgte ein Privileg für das Reich von Kaiser Rudolf II. Zweimal, 1575 und 1583, wurde er auf dem Puy d’ Evreux mit dem Preis für die jeweils beste Motette geehrt. Einen Ruf auf die Stelle eines Hofkapellmeister nach Dresden lehnte er 1580 ab; als Begründung nannte er u.a. seinen Immobilienbesitz in Bayern. 1590 oder 1591 erlitt Lasso einen gesundheitlichen Zusammenbruch (möglicherweise eine Schlaganfall). Dass er sich seines Alters bewusst war, zeigt eine Passage in der an Fürst Ernst von Mengersdorf, Bischof von Bamberg gerichteten Widmungsvorrede zu seinem letzten Druck mit deutschen Liedern (1590-2, München, Adam Berg): ... so villeicht die letzten seyn werden/welche ich inn dise sprach zu componiern bedacht bin .... Am 14. Juni 1594 starb er und wurde im Friedhof des Münchner Franziskanerklosters (am heutigen Max-Joseph-Platz) beigesetzt; sein Epitaph befindet sich im Bayerischen Nationalmuseum.

Schon bald nach seinem Münchner Dienstantritt unternahm Lasso in herzoglichem Auftrag oder in dessen Begleitung zahlreiche Reisen: Um Sänger und Musiker anzuwerben ging er 1560 und wohl auch 1564 in die Niederlande, 1574 reiste er zum selben Zweck nach Italien; dort wurde er (im April 1574) von Papst Gregor XIII. zum Ritter des Goldenen Sprons erhoben. 1562 begleitete Lasso seinen Dienstherrn Albrecht V. nach Prag zu den Krönungsfeierlichkeiten Maximilians II. zum König von Böhmen und anschließend nach Frankfurt, wo Maximilian zum deutschen König gekrönt wurde. Auch sonst war Lasso mit ausgewählten Musikern der Hofkapelle aus Repräsentationsgründen im Gefolge des Herzogs: so bei den Reichstagen in Augsburg 1566, Regensburg 1567 und Augsburg 1582. 1570 war er mit Albrecht V. bei Maximilian II. in Prag. Im Oktober 1573 ging er als Bote Albrechts mit Geschenken an Maximilian nach Wien. Im September 1574 wirkte er mit bei den Feierlichkeiten zur Hochzeit des Pfalzgrafen Philipp von Neuburg mit Prinzessin Anna von Jülich, Kleve und Berg. Auch private Reisen sind belegt: Im Mai 1571 war er in Paris; nach seiner Rückkehr wurde sein Gehalt von 325 auf 400 Gulden aufgestockt, da man ihn wohl unbedingt in München halten wollte. Noch 1574 versuchte Charles IX., Lasso über den mit ihm bekannten Lautenisten und Verleger Adrian le Roy Lasso nach Frankreich zu holen. Die wohl letzte große Reise war im September/Oktober 1585 eine Wallfahrt nach Loreto, die Lasso zusammen mit einigen Hofmusikern durchführte.

2   Werke

2.1   Überblick und Würdigung

Lasso wird zusammen mit Palestrina als der bedeutendste Komponist seiner Zeit angesehen. Sein Werk ist außerordentlich umfangreich; die Werkbibliographie (vgl. Leuchtmann/Schmid: Lasso) umfasst 1197 in den Jahren 1555 bis 1622 erstgedruckte Kompositionen und 162 zeitgenössisch nur handschriftlich überlieferte Werke (die vergleichsweise wenigen zweifelhaften Werke sind eingerechnet und in der genannten Bibliographie jeweils als opus dubium gekennzeichnet. Das Werk gliedert sich folgendermaßen: über 500 Motetten, ca. 175 Madrigale und andere italienisch textierte Sätze, ca. 150 französische Chansons, ca. 100 deutsche Lieder und Psalmvertonungen, 70 Messen (einige wenige sind falsch zugeschrieben), ca. 100 Magnificat, 4 Passionen; typisch für Lasso sind Zyklen wie die Prophetiae Sibyllarum, die Bußpsalmen, die Hiob-Lektionen (zweimal vertont), die Lamentationes Hieremiae Prophetae (ebenfalls zwei Vertonungen), sowie die 1594 geschaffenen, 1595 gedruckten Lagrime di San Pietro (die Bußtränen des hl. Petrus nach Texten von Tansillo, geistliche Madrigale zu sieben Stimmen).

Als Lassos Hauptwerk gelten seine ca. 516 Motetten, die 1604 von seinen Söhnen Ferdinand und Rudolph zum Magnum opus musicum zusammengefasst wurden (erschienen bei Nikolaus Heinrich in München). Schon Michael Praetorius bezeichnet Lasso als den bedeutendsten Vertreter dieser Gattung, wenn er schreibt: quem in isto genere hac nostrâ memoriâ Primas tenere arbitror (vgl. Syntagma musicum, Bd.III, S.9). Das sowohl in inhaltlicher wie in stilistischer und funktionaler Hinsicht breite Spektrum der von ihm vertonten Texte umfasst einerseits liturgische Vorlagen wie Pater noster, die bekannten marianischen Antiphonen (wobei er mitunter die dazugehörigen Choralmelodien bearbeitet – was bei Lasso nur selten vorkommt) und Offertorien für die vorweihnachtliche und vorösterliche Fastenzeit, dazu Hymnen- oder Sequenztexte. Andere geistliche Motetten orientieren sich an liturgischen Texten, ohne sie im Wortlaut oder vollständig zu vertonen; derartige Sätze sowie solche nach sonstigen (oft der Bibel entnommenen) geistlichen, aber nicht liturgischen Texten können evtl. als Andachtsmusiken gesehen werden. Des weiteren finden sich mitunter groß besetzte, mehrchörige Staats- und Huldigungsmotetten nach zeitgenössischen Texten (Edite Caesareo), Humanistenlatein liegt außerdem den Chören für jesuitische Theaterstücke zugrunde (vgl. das auch musikalisch vom sapphischen Versmaß geprägte Flemus extremos hominum labores aus Stefano Tuccis Christus Iudex), auch antikes Latein (etwa Stet quicumque volet aus Senecas Thyestes) wird zur Vorlage für Motetten. Schließlich vertont Lasso eine Anzahl von Liebes- und Trinkliedern, z.B. Anna, mihi dilecta, veni (das in seiner Chromatik an die Prophetiae Sibyllarum oder an das wohl von de Rore beeinflusste Alma nemes erinnert), Fertur in conviviis (auf einen Text, der teilweise vom Archipoeta stammt, vom Satz her an den Typus der Pariser Chanson erinnernd) oder Iam lucis orto sidere statim oportet bibere (eine Hymnenparodie). Der stilistischen Vielfalt der Texte entsprechen die kompositorischen Mittel: neben motettischen Stilcharakteristika werden solche aus der Chanson oder aus dem Madrigal aufgegriffen. Die ausdrucksstarke, von Phantasie geprägte, oftmals assoziative Textausdeutung mag der Grund für das Mischen kompositorischer Mittel sein; wiederum ist es Praetorius, der anhand der Motetten Lassos Textausdeutung hervorhebt: ... Motetten, so vff des Orlandi de Lasso (... qui in applicatione Textus ... summam industriam & dexteritatem nobis reliquit & exhibuit) Art gesetzet ...) (vgl. Syntagma musicum, Bd.III, S.51). Praetorius ist es auch, der (ohne Lassos Namen zu nennen) das Mischen von Stilcharakteristika der einzelnen Gattungen zulässt: Ettliche wollen nicht zu geben/dass man in compositione alicujus Cantionis zugleich Motettische vnd Madrigalische Art vntereinander vermischen solle. Deroselben Meynung ich mir aber nicht gefallen lasse; Sintemahl es den Motecten vnd Concerten eine besondere lieblich: vnnd anmütigkeit gibt vnnd conciliiret, wenn im anfang etliche viel Tempora gar pathetisch vnd langsamb gesetztet seyn/hernach etlichegeschwinde Clausulen daruff folgen: Bald wiedervmb langsam vnd gravitetisch/bald abermahl geschwindere vmbwechselung mit einmischen/damit es nicht allezeit in einem Tono vnd Sono fortgehe/sondern solche vnd dergleichen verenderungen mit eim langsamen vnd geschwinden Tact: (Syntagma musicum, Bd.III, S.80). Die zitierte Passage liest sich fast wie eine Charakteristik von Lassos Stil. Er ist stets geneigt, die stilistischen Gattungsgrenzen zu überschreiten, auch wenn er sich deren sehr bewusst ist, wie sich etwa am Audite nova, der Baur von Eselßkirchen (hier allerdings wohl mit parodistischer Absicht) zeigt: Der lateinische Beginn führt zu motettischer Satzweise mit einem imitierend behandeltem Soggetto, während der deutsche Text in einer evtl. von der Villanella beeinflussten Satzweise gehalten ist.

Deutsche Lieder hat Lasso erst vergleichsweise spät (ab 1567) komponiert. Er greift darin italienische und auch französische Stilmittel auf, ohne allerdings ganz mit der traditionellen Satzweise des Tenorlieds zu brechen: so legt er in Mein Frau Hilgart (1576) das bekannte Marienlied Maria zart in den Tenor, was wohl wiederum in parodistischer Absicht geschieht (vgl. Martin Just, Lassos mehrteilige deutsche Lieder zu fünf Stimmen, in: Bossuyt/Schreurs/Wouters, Orlandus Lassus and his Time, S.175ff. und Birgit Lodes, Multiple Erscheinungen einer Vorlage. Maria zart kontrafaziert und bearbeitet, in: Nicole Schwindt (Hrsg.), Die Kunst des Übergangs. Musik aus Musik in der Renaissance. Trossinger Jahrbuch 7, 2007, Kassel usw. 2008, S.63-101).

Die Chansons Lassos hingegen sind von den bekannten Gattungsmustern der Zeit beeinflusst: er pflegte den Typus der Pariser Chanson (vgl. Janequin oder Sermisy) ebenso wie die satztechnisch am imitativen Kontrapunkt orientierte Chanson nach niederländischem Vorbild (vgl. Gombert oder Clemens non Papa), daneben die an das Madrigal anknüpfende Kompositionsweise (vgl. de Rore). Die Vielfalt der vertonten Texte reicht von anonymen, oft schlüpfrigen Quatrains bis zu solchen von Dichtern der Pléiade (Ronsard). Besonders die inhaltlich zweideutigen Texte wurden von den Hugenotten in großen Sammlungen (vgl. den erstmals 1576 aufgelegten Thresor de Musique) geistlich kontrafaziert; deren Absicht war es, die gute Musik mit ihr angemessenen hochstehenden Texten zu unterlegen, die Chansons damit qualitativ insgesamt zu heben (vgl. Freedman: The Chansons of Orlando di Lasso, xiii passim). Dies führte mitunter zu grotesken Missverständnissen: Zu Fertur in conviviis (einem derben Trinklied, trotz seines lateinischen Texts satztechnisch gesehen eine Chanson und in Frankreich stets in Chansondrucken publiziert) druckten le Roy & Ballard in der Meslanges d’ Orlande de Lassus (1576-7) als zusätzlichen Text eine ohne Zweifel parodistisch gemeinte Totenklage auf Jacob Clemens non Papa Tristis ut Eurydicen, die in hugenottischen Drucken naiv als besserer Text übernommen wird.

Als Madrigalist ist Lasso, der von 1544-1554 in lebte, von Komponisten wie Willaert oder Animuccia beeinflusst. Sein erstes Buch mit Madrigalen zu fünf Stimmen (1555-1, Gardano, Venedig) wurde insgesamt vierzehnmal aufgelegt und nachgedruckt. Wohl in Neapel wurden ihm auch Gattungen wie die Villanella oder die Moreska bekannt; noch 1581 gab er eine Sammlung heraus, in deren Widmungsvorrede er auf seine Jugend verweist. Seine späten, in Nürnberg bei Gerlach gedruckten Madrigale (1585-2 und 1587-8) weisen hinsichtlich der Auswahl ausschließlich ernster oder moralisierender Texte (neben Petrarca treten als bevorzugte Dichter Bembo und Fiamma) und auch der mit kleinen Motiven arbeitenden, dichten Satzweise auf die Lagrime di San Pietro voraus, ein Zyklus siebenstimmiger geistlicher Madrigale nach Texten von Tansillo (München, Adam Berg, 1595-1). Der dichten Satz in Verbindung mit sehr knapper formaler Gestaltung wird generell als Charakteristikum von Lassos Madrigalen gesehen (vgl. Hartmut Schick: Musikalische Einheit im Madrigal von Rore bis Monteverdi, Tutzing, 1998, S.365).

Den Mittelpunkt von Lassos liturgischem Schaffen bilden die ca. 70 ihm zugeschriebenen Messen (von denen einige nicht von ihm stammen), sowie die etwa 100 Magnificat. Eine große Anzahl der Messen und Magnificat (übrigens auch 8 von Lassos 14 Nunc dimittis, unter denen ein opus dubium zu finden ist) bedienen sich der Parodietechnik, die Lasso als erster systematisch auf das Magnificat anwandte. Die Parodiemesse erlebte mit Lasso ihre absolute Krönung, sowohl hinsichtlich der Vielseitigkeit der zugrundegelegten Modelle als auch der Kompositionstechnik (Ignace Bossuyt: Art. Lassus 1. Orlande de, Sp.1298). Zahlreiche eigene Motetten und nur wenige anderer Komponisten wie Jacquet von Mantua oder seines Vorgängers Ludwig Daser, eigene wie fremde Madrigale (de Rore, Arcadelt, Festa, Willaert und Palestrina), daneben Chansons (vorwiegend solche des Pariser Typs von Sermisy, Certon und Clemens non Papa) liegen seinen Parodiemessen zugrunde. Für diejenigen nach weltlichen Vorlagen kann David Crooks These über die Parodie-Magnificat (imitation Magnificat, wie er sie bezeichnet) ebenso gelten: Durch die Umgestaltung einer Vorlage mit weltlichem, evtl. erotischem Text zum Magnificat erfährt das zugrundeliegende Material eine Hebung und Aufwertung (vgl. David Crook: Imitation Magnificats, zusammengefaßt S.81-82); dies ist ein Aspekt, der seine Parallele in den hugenottischen Kontrafakta nach Chansons und in einigen im Magnum opus musicum (1604) mit neuem Text versehenen Motetten hat.

Unter den für Lassos Schaffen typischen Zyklen seien die Prophetiae Sibyllarum und die Bußpsalmen hervorgehoben. Beide zählen zur Musica riservata, Musik also, die der Aufführung am herzoglichen Hof vorbehalten blieb, die deshalb erst spät publiziert werden durften (die Bußpsalmen im Jahr 1584; fünf Jahre nach Albrechts V. Tod, die Prophetiae erst 1600). Die Prophetiae repräsentieren wie nur wenige andere Werke (vgl. Alma Nemes, Anna, mihi dilecta, veni oder in geringerem Umfang Timor et tremor) Lassos von Cipriano de Rore beeinflusste, ansonsten eher sparsame Verwendung von Chromatik. Die etwa 1560 entstandenen Bußpsalmen schließlich waren ein Kunstkammer-Objekt. Sie sind in einer zweibändigen, vom Hofmaler Hans Mielich reich illuminierten Prachthandschrift überliefert (D-Mbs, Mus.ms. A, Mielich-Codex). Das Programm der Abbildungen nach biblischen Geschichten und deren Bezug zu den vertonten Psalmtexten hat der Humanist Samuel Quickelberg in zwei Kommentarbänden erläutert. Mit dem Mielich-Codex liegt aufgrund der musikalischen und bildlichen Ausdeutung der Bußpsalmen also ein Art Gesamtkunstwerk vor.

2.2   Lasso als Hofkomponist der Herzöge Albrecht V. und Wilhelm V.

Lasso wurde 1556 als Tenorist und Komponist nach München geholt. In der Tat sind eine Anzahl von Werken für den Hof entstanden, so die oben angesprochenen Bußpsalmen als Auftragswerk. Eine Anzahl von Drucken hat Lasso selbst den Herzögen gewidmet: Herzog Albrecht V. ist das Nürnberger Motettenbuch (1562-4) zugeeignet. Sein Sohn Wilhelm V., zu dem er insbesondere vor dessen Regierungsantritt 1579 ein freundschaftliches Verhältnis hatte, von dem zahlreiche erhaltene Briefe zeugen (vgl. Horst Leuchtmann: Orlando di Lasso. II. Briefe), ist Widmungsträger des erstes Buchs mit deutschen Liedern (1567-4), des in Paris erschienenen Motettendrucks 1571-4, des Motettendrucks 1572-5 (eines bei Adam Berg in München erschienenen Nachdrucks von 1571-4 mit neuem Widmungstext), des ersten Bandes der Reihe Patrocinium musices (1573-9), der Bicinien 1577-2 und schließlich (als Wilhelm bereits Herzog war) der Villanellen und Moresken 1581-6. Wilhelm und seine Brüder Ferdinand und Ernst ist der Triciniendruck 1575-7 gewidmet. Und dem damals zehnjährigen Sohn Wilhelms V. Maximilian, der 1597 die Regierungsgeschäfte übernehmen sollte, ist der Drucke 1583-6 mit vierstimmigen deutschen Liedern zugeeignet.

Nach Wilhelms Regierungsantritt 1579 wurde am Münchner Hof der den tridentinischen Reformen entsprechende römische Ritus eingeführt (vgl. Bente/Göllner/Hell/Wackernagel: Katalog der Musikhandschriften, S.18*-19*). Lasso fiel die Aufgabe zu, die dafür notwendige Musik zu schaffen; das Hymnarium von 1580/81 (D-Mbs, Mus.ms. 55) fällt ebenso in diesen Bereich wie die 1581 bis 1583 komponierten Offertorien (D-Mbs, Mus.ms. 2744), die Lasso allerdings unabhängig davon in den Drucken 1582-5 und 1585-8 als Motetten herausgab, wo sie folgerichtig nach musikalischen Kriterien angeordnet sind, während die Reihenfolge in der Handschrift dem Kirchenjahr entspricht. Schließlich seien die Zyklen mit den Lamentationes Jeremiae Prophetae erwähnt, deren vierstimmige Fassung um 1585 (vgl. Bente u.a.: Katalog der Musikhandschriften, S.270), Peter Bergquist zufolge zwischen 1588 und 1591 (vgl. Sämtliche Werke, Neue Reihe, Bd. 22, S.VII) ins Chorbuch Mus.ms. 2745 für den Gebrauch in der Hofkapelle ingrossiert wurde.

3   Quellenlage

3.1   Allgemein

Aus den Jahren 1555 bis 1687 sind über 470 Einzeldrucke und Sammelwerke erhalten, die Anzahl an Handschriften beläuft sich auf ca. 600. Die erhaltenen zeitgenössischen Drucke mit Werken Lassos sind bibliographisch und inhaltlich erschlossen, der folgende Überblick beruht auf dem Katalog der gedruckten Quellen (vgl. Leuchtmann/Schmid, Lasso). Lasso ist der meistgedruckte Komponist seiner Zeit. Waren seit 1555 jährliche zunächst nur wenige Drucke mit seinen Werken erschienen (1555 sechs, 1556 nur einer), so steigt die Anzahl ab den 1560er Jahren konstant an: 1569 liegen 21, 1570 22 Drucke vor. In den folgenden Jahren pendelt die Anzahl zwischen 18 (1573) und 4 Drucken, wobei allerdings in den Jahren vor und nach 1580 noch einmal ein Aufschwung zu beobachten ist: von 1578 sind 12 Drucke nachweisbar, von 1579 sind es 8, 1581 13 und in den Jahren 1587 und 1588 immerhin 14. Ein steter Rückgang ist ab den 1590er Jahren zu verzeichnen: zwischen 1595 und 1620 finden sich meist 1 bis 5 Drucke, wobei die jährliche Abfolge erstmals 1611, dann von 1615 bis 1617 unterbrochen ist. Die Drucke sind über ganz Europa verteilt, als Hauptdrucker sind zu nennen Adam Berg (München), Montanus und Neuber bzw. Gerlach (Nürnberg), le Roy et Ballard (Paris), Gardano (Venedig), Scotto (Venedig) und schließlich Phalèse (Leuven und Antwerpen).

Am häufigsten aufgelegt und nachgedruckt wurden die Chansons: Susanne un jour brachte es auf insgesamt 28 erhaltene Drucke und 22 gedruckte Tabulaturen, Je l’ ayme bien ist in 31 Drucken nachweisbar. La terre les eaux wurde allein 1576 viermal gedruckt. Ein Grund für die große Verbreitung der Chansons ist die ungewöhnliche Anzahl an Kontrafakturen: manches Stück erlebte drei und vier Kontrafakta, eine Anzahl von Chansons hat der Lasso-Schüler Johann Pühler 1582 mit deutschen Texten unterlegt. Einige Motetten, so diejenigen aus dem Nürnberger Motettenbuch 1562-4, brachten es auf bis zu 22 Drucke; das erste Buch fünfstimmiger Madrigale (Erstdruck 1555-1 bei Gardano in Venedig) ist in insgesamt 16 Ausgaben aus den Jahren 1555 bis 1586 nachweisbar; am wenigsten publiziert wurden Lassos deutsche Lieder, was sich daher erklärt, dass diese ausschließlich in Deutschland gedruckt wurden (bei Adam Berg in München und bei Gerlach in Nürnberg).

Das sonstige Werk Lassos wurde (von Ausnahmen abgesehen) in geringerem Ausmaß velegt. Zyklen wie die Prophetiae Sibyllarum und die Bußpsalmen sind der Musica reservata zuzurechnen und wurden erst spät je einmal publiziert: die Bußpsalmen 1584, 5 Jahre nach dem Tod Albrechts V., die Prophetiae erst nach Lassos Tod im Jahr 1600. Die Lagrime di San Pietro wurden wohl schon deshalb nur einmal gedruckt, weil sie den Schlussstein in Lassos Werk bilden und der Komponist, der offenkundig an der Verbreitung seines Werks interessiert war, sich nicht mehr selbst darum bemühen konnte. (Das Spätwerk Lassos ist insgesamt weniger publiziert als frühere Kompositionen, wobei sicherlich auch der allmählich einsetzende Stilwandel um 1600 eine Rolle spielt.) Der einzige häufig gedruckte Zyklus ist der ältere der beiden Lektions-Zyklen nach Hiob, der – handschriftlich zusammen mit den Prophetiae Sibyllarum in Mus. Hs. 18.744 der Österreichischen Nationalbibliothek überliefert – in den Jahren 1565 bis 1589 insgesamt zwölfmal bei Gardano, Le Roy & Ballard, Phalèse, Gerlach, Haultin und Berg herausgegeben wurde. Von den 4 Passionen ist nur die Matthäus-Passion in den Jahren 1575 (Adam Berg, München) und 1586 (le Roy et Ballard, Paris) im Druck erschienen. Ca. 40 der 70 ihm zugeschriebenen Messen (opera dubia eingerechnet) sind im Druck erschienen (die Missa Iager noch 1587), während die Magnificat von Rudolph de Lasso 1619 zum Jubilus Beatae virginis zusammengefasst nahezu vollständig publiziert sind, viele davon aber nur im Jubilus. Ebenfalls nicht gedruckt wurden die Hymnen von 1580/81.

Die etwa 600 Handschriften mit Musik Lassos sind bibliographisch und inhaltlich in wesentlich geringerem Umfang und weniger detailliert erfasst als die Drucke. Einen ersten Überblick bieten Arbeiten Wolfgang Boettichers: seine Monographie von 1958 (2/1999) und das Verzeichnis der Werke (1998). Im folgenden wird auf einen allgemeinen Überblick zu den Handschriften verzichtet, da die nach Orten und Bibliotheken geordnete Auflistung bei Boetticher zwar zeigt, dass handschriftliches Quellenmaterial mit Musik Lassos nahezu über ganz Europa und von der 2. Hälfte des 16. bis ins 19. Jahrhundert verbreitet ist; genaue Kenntnisse zur Entstehungszeit, zur Provenienz und vor allem eine detaillierte inhaltliche Erschließung bieten jedoch lediglich diverse Bibliothekskataloge. Zur Bedeutung der Handschriften im Vergleich zu den gedruckten Quellen vgl. unten im Anschluss an die Abhandlung der in Bayern entstandenen Drucke, da die in bayerischen Bibliotheken aufbewahrten Handschriften durch Kataloge zum großen Teil gründlich erschlossen sind, so die Bestände der Bayerischen Staatsbibliothek aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert durch die von Martin Bente, Marie Louise Göllner, Helmut Hell und Bettina Wackernagel (Band 1) und Marie Louise Göllner (Band 2) erarbeiteten Volumina des Katalogs der Musikhandschriften dieser Bibliothek; eine ähnliche Leistung liegt durch den Thematischen Katalog der Musikhandschriften der Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg vor (vgl. Gertraut Haberkamps Katalogisierung der Sammlung Proske).

3.2   Bayern

3.2.1   Hier entstandene Drucke und Handschriften

München und Nürnberg spielen für den Druck von Lassos Werk eine entscheidende Rolle. Während in den Jahren ab 1555 Lasso in Italien, in den Niederlanden und in Frankreich gedruckt wurde, so wird Deutschland ab 1562 zunächst zögernd, dann zunehmend wichtig. 1562 ist der erste deutsche Lassodruck überhaupt erschienen (das Nürnberger Motettenbuch 1562-4 bei Montanus und Neuber in Nürnberg), ab 1567 mit dem ersten Buch deutscher Lieder wird Adam Berg in München einer von Lassos Hauptverlegern. Bei Montanus und Neuber, Neuber bzw. Gerlach wurden in den Jahren 1562 bis 1593 39 Drucke publiziert; 17 davon enthalten insgesamt 131 erstgedruckte oder -belegte Sätze. Berg brachte zwischen 1567 und 1609 48 Drucke mit Werken Lassos heraus; in 30 finden sich insgesamt 412 Erstdrucke oder -belege, eine Zahl, die von keinem anderen Verlagshaus überboten wurde.

Die Lasso-Drucke beider Offizinen zeigen programmatisch unterschiedliche Ausrichtungen. In Nürnberg wurden nur wenige ausschließlich Erstdrucke enthaltende Ausgaben verlegt, so das Nürnberger Motettenbuch 1562-4; außerdem die in Frankreich und Italien oft nachgedruckten Magnificat octo tonorum, sex, quinque, et quatuor vocum (1567-3); daneben zwei Madrigaldrucke, die sogenannten Mermann-Madrigale zu vier, fünf und sechs Stimmen (benannt nach dem Widmungsträger, dem Leibarzt des Herzogs Thomas Mermann) 1587-8, sowie 1585-2 (ein Buch mit fünfstimmigen Madrigalen). Einen Schwerpunkt der Nürnberger Offizin bilden stattdessen (nur wenige Erstbelege enthaltende) großangelegte Sammlungen von überwiegend bereits früher publizierten Sätzen, so die in zwei Bänden erschienenen Selectissimae cantiones (1568-3/4, von Leonhard Lechner redigiert und erweitert 1579-2/3 und 1587-2/3), die Fasciculi aliquot sacrarum cantionum (1582-8 und 1589-3) und das Tertium opus musicum (1588-1); die beiden letztgenannten Drucke fassen weitgehend bei Adam Berg erschienene Motetten zusammen. Zu den Teutschen Lieder mit fünff Stimmen, zuvor unterschiedlich, jetzund aber mit des Herrn Authoris bewilligung inn ein Opus zusammen getruckt erschienen als 1583-1 drei Bücher mit Liedern, die bei Berg (1567-4, 1572-6 und 1576-4) erstgedruckt waren. Hinzuweisen ist ferner auf den fünfbändigen Thesaurus musicus (1564-5 bis 1564-9), einem repräsentativen, Herzog Albrecht V. gewidmeten Sammelwerk, das einige Erstbelege für Lasso enthält.

In Bergs Verlagsprogramm hingegen findet sich eine ganze Anzahl ausschließlich Lasso enthaltender Erstdrucke. Dies sind die bereits genannten drei Bücher mit deutschen Liedern, zu denen noch die Newen Teutschen Lieder Geistlich und Weltlich (1583-6) Newen Teutschen vnnd etlichen Frantzösischen Gesäng (1590-3) kommen. Von gattungsgeschichtlichem Interesse ist die Aufnahme von Chansons in deutsche Lieddrucke (vgl. 1590-3, aber auch 1576-4), was zur Folge hat, dass ursprüngliche französisch unterlegte Sätze als deutschsprachige Kontrafakta zusammen mit Liedern publiziert werden konnten (so in 1583-6), dass schließlich der Lasso-Schüler Johann Pühler einen ganzen Druck mit Kontrafakturen nach französischen Chansons bei Adam Berg herausgab (1582-9). Das wenigstens teilweise Abrücken Lassos von der traditionellen, am Tenor orientierten Satzart des deutschen Liedes und die Annäherung an Satztypen anderer Gattungen wie der Chanson zeigt sich so auch in den Publikationen. Dass die in München und Nürnberg ansässigen Drucker für alle Gattungen offen waren (während deutsche Lieder im Ausland nicht publiziert wurden) zeigt der sog. Viersprachendruck (1573-8), der neben jeweils sechs Sätzen zu vier Stimmen nach lateinischen, französischen, italienischen und deutschen Vorlagen noch je einen achtstimmigen Dialog in jeder Sprache enthält. Insbesondere in den 1580er Jahren sind bei Berg etliche Motettenerstdrucke erschienen, so 1582-6, 1582-7, 1585-4 und 1585-8. Die Erstausgabe der Lectiones sacrae novem ex libris Hiob 1582-5 (Lassos zweiter Vertonung dieses Lektionszyklus) enthält quasi als Anhang ebenfalls eine Anzahl erstgedruckter Motetten, im Druck der fünfstimmigen Lamentationes Hieremiae Prophetae 1585-3 (Lassos vierstimmiger Zyklus liegt nur handschriftlich in D-Mbs, Mus.ms. 2745 vor) sind wiederum Motetten erstmals publiziert. Ein Publikumserfolg wurden die Novae aliquot et ante hac non ita usitatae ad duas voces Cantiones suavissimae (die Bicinien 1577-2), wie die insgesamt acht Nachdrucke bei le Roy (Paris), Gardano (Venedig), Vincenti & Amadino (Venedig) und Este (London) belegen. Einen Höhepunkt der Druckgeschichte Lassos markieren die Bände des Patrocinium musices, eine Reihe von zwölf mit prächtigen Initialholzschnitten ausgestatteten Drucken in Chorbuchanordnung, für die aufgrund des für Chorbücher typischen Folioformats eigens Notentypen hergestellt werden mußten. Sieben Bände aus dieser Serie sind nahezu ausschließlich Erstausgaben mit Musik Lassos aus unterschiedlichen Gattungen: 1573-9 enthält Motetten; 1574-3 und 1589-1 Messen; 1574-4 Propriumszyklen zu Hochfesten; 1575-3 die Matthäus-Passion, Matutinlektionen zu Weihnachten sowie den schon früher (1565-3 bei Gardano) veröffentlichten ersten Zyklus der Hioblektionen; Magnificat sind publiziert in 1576-3 und 1587-4. (Die übrigen fünf Bände beinhalten Musik anderer Komponisten wie Ludwig Daser, Franz Sales, Blasius Amon und Caesar de Zachariis.)

Schwiegersohn und Konkurrent Adam Bergs war Nicolaus Heinrich in München, dem die Söhne Lassos ab 1600 einige wichtige Druckwerke anvertrauten: so die Prophetiae Sibyllarum (1600-1), den Messendruck 1610-10 mit fünf Erstdrucken, die im Magnum opus musicum (1604-1) gesammelten Motetten ihres Vaters, die im Jubilus Beatae virginis zusammengefassten Magnificat und schließlich zwei Drucke, in denen Werke des Vaters mit den Söhnen gemeinsam veröffentlicht sind: 1601-1 enthält Motetten von Rudolph und Orlando di Lasso, in 1602-1 sind Magnificat von Ferdinand mit solchen von Orlando gedruckt.

Zu erwähnen bleibt die Grazer Offizin Georg Widmannstetters; dieser ist 1568 und 1584 als Drucker und Korrektor bei Adam Berg in München nachweisbar. Er brachte den zu Lebzeiten Lassos letzten Erstdruck von Motetten heraus (1594-2).

Wie bereits oben dargelegt, fehlt eine einigermaßen detaillierte Übersicht über die Handschriften mit Musik Lassos. Ein Überblick über die Situation insgesamt ist somit derzeit kaum möglich. Die folgende Darstellung beruht deshalb im wesentlichen auf Kenntnissen, die die einschlägigen Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek und der Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg bieten. Ein Großteil der etwa 600 Handschriften mit Musik Lassos hat als Sekundärquellen zu gelten: Es handelt sich dabei z.B. um evtl. von älteren (mitunter auch besseren) Quellen abgeschriebene, für Kirchen oder Klöster bestimmte Aufführungsmaterialien (vgl. das 1597 entstandene Chorbuch D-Mbs, Mus.ms. 89 aus dem Kapuzinerkonvent Neumarkt Neumarkt, eine Quelle, die als unzuverlässig gilt; vgl. auch das Chorbuch D-Mbs, Mus.ms. 509 aus dem Benediktinerkloster Benediktbeuern, 1602, mit der 1577 gedruckten Missa Surge propera) oder auch um Abschriften aus Drucken, die mitunter zu Zwecken wie Hochzeiten oder sonstigen Feierlichkeiten, aber auch zum Schulgebrauch zusammengestellt wurden, wie die mutmaßlich aus dem Regensburger Gymnasium poeticum stammenden Stimmbücher D-Rp, AN 1 (1607), D-Rp, A.R. 942-946 (1609-1610) oder D-Rp, A.R. 985-986 mit protestantischen Kontrafakta nach Lasso-Motetten. Quellen wie die eben genannten Stimmbücher von vermutlich Regensburger Provenienz sind für die Erstellung einer historisch-kritischen Ausgabe insofern von Interesse, da sie hohen rezeptionsgeschichtlichen Wert haben: Umtextierungen lassen auf veränderte Verwendung der Sätze schließen (etwa auf Aufführungen in verändertem konfessionellen Umfeld), Zusammenstellungen zu bestimmten Festlichkeiten o.ä. erlauben ebenfalls Rückschlüsse auf funktionale Kontexte der Musik.

Es versteht sich von selbst, dass Handschriften dann hohe Autorität zukommt, wenn gedruckte Quellen fehlen (was bei einer Anzahl von Messen oder bei Lassos 1580/81 im Zusammenhang mit der Einführung des römischen Ritus komponierten Hymnen in D-Mbs, Mus.ms. 55 der Fall ist). Wenn zuverlässige gedruckte Quellen vorliegen, können Handschriften dann von größter Bedeutung sein, wenn sie aus dem Umkreis des Komponisten stammen, da sie dann mutmaßlich unter seiner Aufsicht und mitunter vor der Drucklegung entstanden sind. Dies trifft auf die heute in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrten Chorbücher aus der Münchner Hofkapelle zu: So wurden die frühesten der zwischen 1581 bis 1583 entstandenen und von Franz Flori ins Chorbuch Mus.ms. 2744 ingrossierten Offertorien nach der handschriftlichen Fassung in 1582-5 gedruckt, der größere Teil erst in 1585-8. (Dieses Beispiel zeigt auch den oftmals engen Abstand zwischen Ingrossierung und Drucklegung, da ja Teile der im Chorbuch enthaltenen Sätze schon vor dessen Fertigstellung publiziert wurden.) Ein Großteil der in Mus.ms. 20 (um 1565 und 1580) enthaltenen Sätze wurde ebenfalls erst später gedruckt. Die meisten Sätze aus Mus.ms. 20 (um 1560) dürften zwar aus dem bei Laet in Antwerpen gedruckten 1556-1 abgeschrieben sein, Lasso hat jedoch in zwei Motetten autographe Textkorrekturen vorgenommen.

3.2.2   Quellen in bayerischen Bibliotheksbeständen

Reiches Quellenmaterial zu Lasso findet sich vor allem in der Bayerischen Staatsbibliothek München, bedeutsam sind außerdem die Bestände der Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg und der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Für Augsburg sei verwiesen auf die Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Die Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg enthält die Bestände des Kirchenmusikreformers, Priesters und Arztes Carl Proske mit Musik von Lasso enthaltenden Drucken und Handschriften, die dieser 1861 dem Bischöflichen Stuhl vermacht hatte. (Proske hat das in seinem Besitz befindliche Magnum opus musicum weitestgehend im Jahr 1842 spartiert und damit eine wesentliche Voraussetzung für die von Haberl erstellte Edition der Motetten in der Alten Gesamtausgabe geschaffen, da sich Haberl auf Proskes Sparten stützen konnte.) Auch die Bibliothek des Priestermusikers, Kirchenmusikreformers und Musikwissenschaftlers Franz Xaver Haberl ging in die Regensburger Bibliothek mit ein.

Die Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, die insgesamt eine der größten und bedeutendsten Sammlungen mit Musik des 16. Jahrhunderts und den für die Musik Orlando di Lassos weltweit größten Quellenbestand besitzt, verwahrt das aus der Münchner Hofkapelle zur Zeit Lassos überkommene Aufführungsmaterial: Chorbücher mit geistlicher Musik, die zum Teil prächtig ausgestattet und, wohl unter Lassos Aufsicht, durchwegs von hervorragenden Schreibern wie Franz Flori hergestellt wurden. (Handschriftliche Stimmbücher aus der Hofkapelle fehlen ganz; da deren Verbleib bis heute nicht geklärt ist, müssen sie als verloren gelten.) Im Zug der Säkularisation (seit 1802) kamen weitere Chorbücher, handschriftliche Stimmbücher und Tabulaturen aus bayerischen Klöstern in die Bibliothek, 1828 wurden die zahlreichen Chorbücher aus St. Michael (der Jesuiten- und Hofkirche) übernommen. Außerdem besitzt die Musikabteilung der Münchner Bibliothek eine große Anzahl von Einzeldrucken und Sammelwerken des 16. und frühen 17. Jahrhunderts mit Musik Lassos, die zum Teil zu den ältesten Beständen der 1558 von Albrecht V. gegründeten Hofbibliothek zählen, also nicht im Gebrauch der Hofkapelle waren. Angekauft wurde um 1585 die Sammlung des Augsburger Ratsherrn Johann Heinrich Herwart (1520-1583) und 1594 die Bibliothek des Augsburger und Eichstätter Domherren Johann Georg Werdenstein (1542-1608); beide enthielten reiche Bestände an Musikdrucken des 16. Jahrhunderts und bilden den Grundstock der großen Sammlung der Staatsbibliothek an Musikdrucken des 16. Jahrhunderts. Der Bestand wurde stetig erweitert, so konnten 1995 einige Drucke mit Musik Lassos aus der vormaligen Bibliothek von Geneviève Thibaut (Comtesse de Chambure) erworben werden. (Zu den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek vgl. den Überblick von Hartmut Schaefer: München, B. Handschriften und Bibliotheken, Sp.598-605; außerdem die Martin Bente u.a., Katalog der Musikhandschriften 1 und Marie Louise Göllner, Katalog der Musikhandschriften 2). Daneben besitzt die Musikabteilung Sparten aus dem 19. Jahrhundert: so hat der Kustos der Sammlung Julius Joseph Maier selbst Musik Lassos in Partitur geschrieben und im Jahr 1877 den Nachlass von Friedrich Filitz erworben, der eine Sparte des Magnum opus musicum erstellt hatte.

4   (Gesamt-)Ausgaben

Orlando di Lasso. Sämtliche Werke, 21 Bde., hrsg. von F. X. Haberl/A. Sandberger, Leipzig (1894-1926), Nachdruck New York 1973.
Orlando di Lasso. Sämtliche Werke, zweite, nach den Quellen revidierte Auflage, Bde. II, IV, VI, XII, XIV, XVI, XVIII und XX neu hrsg. von H. Leuchtmann, Wiesbaden 1968-1990, Bde. I, III und V neu hrsg. von B. Schmid, Wiesbaden, Leipzig und Paris 2003-2006.
Orlando di Lasso. Sämtliche Werke, Neue Reihe, 26 Bde., hrsg. von W. Boetticher/S. Hermelink u.a., Kassel u.a. 1956-1995.
Orlando di Lasso. Sämtliche Werke, Neue Reihe, Bd. 1, Neuauflage mit Nachtrag 1989, hrsg. von W. Boetticher, Kassel u.a. 1989.
Orlando di Lasso. The Complete Motets, 21 Bde., bisher erschienen Bde. 1-19 (Recent Researches in the Music of the Renaissance 102-103, 105, 109-112, 114-115, 117-118, 120, 124, 128, 130-133, 141), hrsg. von P. Bergquist/D. Crook/J. Erb/R. Wagner Oettinger, Madison 1995-2005.
Orlando di Lasso. Two Motet Cycles for Matins for the Death (Recent Researches in the Music of the Renaissance 55), hrsg. von P. Bergquist, Madison 1983.
Orlando di Lasso. The Seven Penitential Psalms and Laudate Dominum de caelis (Recent Researches in the Music of the Renaissance 86-87), hrsg. von P. Bergquist, Madison 1990.
Orlando di Lasso et al.. Canzoni villanesche and Villanelle (Recent Researches in the Music of the Renaissance 82-83), hrsg. von D. G. Cardamone, Madison 1991.
Orlande de Lassus. Chansons, 4 Bde. (The Sixteenth-Century Chanson, Bd. 11-14), hrsg. von J.A. Bernstein, New York und London 1987.

5   Historisch bedeutsame Ausgaben

Psalmos VII poenitentiales, Modis musicis adaptavit Orlandus de Lassus. Publici juris fecit S. W. Dehn, Berlin 1838.
Selectio Modorum ab Orlando di Lasso compositorum, continens modos quatuor, quinque, sex, septem et octo vocibus concinendos, 8 Bde. (Musica Sacra. Cantiones XVI, XVII saeculorum praestantissimas quatuor pluribusque vocibus accomodatas, Bd. 5-12), hrsg. von F. Commer, Berlin (1860-1867).
Frühe Editionen von Werken Lassos außerdem in der von C. Proske, J. G. Wesselack, J. Schrems und F.X. Haberl herausgegebenen Musica divina, sive thesaurus concentuum selectissimorum omni cultui divino totius anni ..., Annus I, 4 Bde., Regensburg 1853-1863 und 1880-1885. Annus II, 4 Bde., Regensburg 1865-1877. Die Bände des zweiten Jahrgangs sind nur unvollständig in Heften erschienen (vgl. dazu Dittrich, Raymond: Dokumentation zum zweiten Jahrgang und zur zweiten Auflage des Messenbandes aus dem ersten Jahrgang der Musica divina. In: Musik in Bayern, 56, 1998, 55-78).

6   Literatur

6.1   Allgemein

Bergquist, Peter (Hrsg.): Orlando di Lasso Studies, Cambridge 1999.
Boetticher, Wolfgang: Orlando di Lasso und seine Zeit 1532-1594, Repertoire-Untersuchungen zur Musik der Spätrenaissance, Bd. I: Monographie, Kassel und Basel 1958, Wilhelmshaven 21999. Bd. II: Verzeichnis der Werke, Wilhelmshaven 1998.
van den Borren, Charles: Orlande de Lassus, Paris 1920.
Bossuyt, Ignace/Schmid, Bernhold: Lassus, 1. Orlande de. In: MGG2, 10 (Personenteil), 2003, 1244-1310.
Bossuyt, Ignace/E. Schreurs, Eugeen/Wouters, Annelies (Hrsg.): Orlandus Lassus and his Time. Colloquium Proceedings Antwerpen 24-26. 08. 1994 (Yearbook of the Alamire Foundation 1), Peer 1995.
Coeurdevey, Annie: Roland de Lassus, Paris 2003.
Crook, David: Orlando di Lassos’ s Imitation Magnificats for Counterreformation Munich, Princeton 1994.
Dehn, Siegfried Wilhelm: Biographische Notiz über Roland de Lattre, bekannt unter dem Namen: Orland de Lassus, Berlin 1837.
Erb, James: Orlando di Lasso. A Guide to Research, New York und London 1990 (Literatur bis 1990).
Freedman, Richard: The Chansons of Orlando di Lasso and Their Protestant Listeners. Music, Piety, and Print in Sixteenth-Century France, Rochester 2001.
Haar, James: Orlande (Roland) de Lassus (Orlando di Lasso). In: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 14, 2001, 295-322.
Körndle, Franz: Perspektiven der Lasso-Forschung. In: Musik in Bayern 63, 2002, 7-22.
Leuchtmann, Horst: Orlando di Lasso. I. Sein Leben. Versuch einer Bestandsaufnahme der biographischen Einzelheiten. II. Briefe, Wiesbaden 1976/1977.
Leuchtmann, Horst/Schmid, Bernhold: Orlando di Lasso. Seine Werke in zeitgenössischen Drucken 1555-1687 (Orlando di Lasso, Sämtliche Werke. Supplement), 3 Bde., Kassel u.a. 2001.
Orlich, Rufina: Die Parodiemessen von Orlando di Lasso (Studien zur Musik 4), München 1985.
Quickelberg, Samuel: Orlandus de Lassus Musicus. In: Pantaleon, Heinrich (Hrsg.), Prosopographiae heroum atque illustrium virorum totius Germaniae, pars tertia, Basel 1566, 541.
Schmid, Bernhold (Hrsg.): Orlando di Lasso in der Musikgeschichte. Bericht über das Symposion der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, 4.-6. Juli 1994 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen, Neue Folge, Heft 111), München 1996.

6.2   Lasso in Bayern

Boetticher, Wolfgang: Aus Orlando di Lassos Wirkungskreis. Neue archivalische Studien zur Münchener Musikgeschichte, Kassel u.a. 1963.
Bossuyt, Ignace: Lassos erste Jahre in München (1556-1559): eine "Cosa non riuscita"? Neue Materialien aufgrund unveröffentlichter Briefe von Johann Jakob Fugger, Antoine Perrenot de Granvelle und Orlando di Lasso. In: Hörner, Stephan/Schmid, Bernhold: Festschrift für Horst Leuchtmann zum 65. Geburtstag, Tutzing 1993, 55-67.
Göllner, Theodor/Schmid, Bernhold (Hrsg.): Die Münchner Hofkapelle des 16. Jahrhunderts im europäischen Kontext. Bericht über das internationale Symposion der Musikhistorischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Gesellschaft für Bayerische Musikgeschichte, München, 2.-4. August 2004 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen, Neue Folge, Heft 127), im Druck.
Hell, Helmut/Leuchtmann, Horst: Orlando di Lasso. Musik der Renaissance am Münchner Fürstenhof. Ausstellung zum 450. Geburtstag 27. Mai – 31. Juli 1982 (Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellungskataloge 26), Wiesbaden 1982.
Körndle, Franz: Der "tägliche Dienst" der Münchner Hofkapelle im 16. Jahrhundert. In: Schwindt, Nicole (Hrsg.): Musikalischer Alltag im 15. und 16. Jahrhundert (TroJa. Trossinger Jahrbuch für Renaissancemusik 1, 2001), Kassel u.a. 2001, 21-37.
Leuchtmann, Horst (Hrsg.): Die Münchner Fürstenhochzeit von 1568. Massimo Troiano, Dialoge italienisch/deutsch, München und Salzburg 1980.
Leuchtmann, Horst/Schaefer, Hartmut: Orlando di Lasso, Prachthandschriften und Quellenüberlieferung. Aus den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek München (Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellungskataloge 62), Tutzing 1994.
Sandberger, Adolf: Beiträge zur Geschichte der bayerischen Hofkapelle unter Orlando di Lasso. In drei Büchern, Leipzig 1894/1895 (erschienen sind nur die Bücher 1 und 3).
Schaefer, Hartmut: München, B. Bibliotheken, I. Bayerische Staatsbibliothek, 1. Geschichte der Bayerischen Staatsbibliothek und Handschriften mit mehrstimmiger Musik. In: MGG2, 6 (Sachteil), 1997, 598-605.
Wallner, Bertha Antonia: Musikalische Denkmäler der Steinätzkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, München 1912.
Wallner, Bertha Antonia: Ein geätzter Notentisch mit Kompositionen von Orlando di Lasso. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft 16, 1934, 244-245.

6.3   Bibliothekskataloge und Mikrofiche-Editionen

Bente, Martin/Göllner, Marie Louise/Hell, Helmut/Wackernagel, Bettina: Bayerische Staatsbibliothek, Katalog der Musikhandschriften, 1. Chorbücher und Handschriften in chorbuchartiger Notierung (Kataloge Bayerischer Musiksammlungen 5/1) München 1989.
Göllner, Marie Louise: Bayerische Staatsbibliothek, Katalog der Musikhandschriften, 2. Tabulaturen und Stimmbücher bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (Kataloge Bayerischer Musiksammlungen 5/2) München 1979.
Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg: Thematischer Katalog der Musikhandschriften, (Kataloge Bayerischer Musiksammlungen 14/1-12). Darunter: Haberkamp, Gertraut: Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg, Thematischer Katalog der Musikhandschriften, 1. Sammlung Proske, Manuskripte des 16. und 17. Jahrhunderts aus den Signaturen A.R., B, C, AN, M (Kataloge Bayerischer Musiksammlungen 14/1) München 1989.
Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: Die Musikdrucke der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 1488-1630, Erlangen 2000 (Mikrofiche-Edition); dazu: H.(ans) M.(ichael) Schletterer: Katalog der in der Kreis- und Stadt-Bibliothek, dem Staedtischen Archive und der Bibliothek des Historischen Vereins zu Augsburg befindlichen Musikwerke (Beilage zu den Monatsheften für Musikgeschichte) Berlin 1878.